Den technischen Fortschritt voranzutreiben, heisst zugleich, an dessen Grenzen zu stossen. Diese Erfahrung hat Franz Füeg immer wieder gemacht; er zählt zu den Schweizer Pionieren des standardisierten Bauens.
NZZ Ausgabe: 31.10.2019 | Interview: Sabine von Fischer
Mit freundlicher Genehmigung: Copyright© Neue Zürcher Zeitung AG.
Kaum ein Architekt seiner Generation hat sich so viele Gedanken über Systeme und Standardisierung gemacht und ist dabei so frei im Denken geblieben wie der Solothurner Franz Füeg. Mit wenigen Bauten und knappen Sätzen hat der Architekt, Redaktor und Hochschullehrer die Schweizer Nachkriegsarchitektur und auch die Diskussionen darüber für nun vier Generationen geprägt.
Systeme interessieren ihn nach wie vor, und zwar in allen Facetten, von Raumproportionen bis zu Normpositionen. Der Bogen vom Ästhetischen zum Technischen bildet in seinem Denken die Basis für eine Architektur im Dienst des Menschen.
Man soll durch die Standardisierung den Gestaltungsspielraum öffnen, nicht einschränken. «Eine Normierung von Bauelementen tendiert auf Endzustände hin», so argumentierte er an einer Architektentagung zum industriellen Bauen 1959 in seinem Votum für eine differenzierte Rationalisierung und übte damit schon früh Kritik am engstirnigen Einsatz von Effizienz.
Für ihn stand immer das Zusammenspiel der Elemente, nie nur die Produktionssteigerung im Vordergrund. Die Frage nach der Technik ist in seinem Denken zwingend auch eine ästhetische Frage und geht so einher mit der Suche nach den Grundprinzipien des Raums. Mit dieser Überzeugung stiess er auf Widerstand. Und auch heute spricht der heute 98-Jährige eng an den Problemen der Gegenwart und kritisch gegenüber dem Zeitgeist.
Herr Füeg, Sie waren ein Gründungsmitglied der Zentralstelle für Baurationalisierung. Ihre Forschung war auch umstritten: Warum wollten Sie in den 1960er Jahren die Bauprozesse standardisieren?
Das Bauen erlebte in dieser Zeit eine grundlegende und rasante Veränderung. Als ich anfing mit dem Bauen, schaufelten zuweilen noch Männer mit einem Hut auf dem Kopf neben einem kleinen Betonmischer Aushub aus dem Erdreich. Daneben stand ein Pferdefuhrwerk, bereit für den Transport. Plötzlich aber fuhren Betonmischer auf den Strassen, und es standen Caterpillar und andere Baugeräte aus dem Krieg, die die Amerikaner nun verkauften, auf den Baustellen.
1960 setzten wir uns erstmals zusammen. Statt Texte selber zu verfassen, gibt es jetzt standardisierte Textelemente. Werden diese Elemente korrekt gebündelt, dann besitzen die Bauherrschaft, die Architekten, die Ingenieure und der ausführende Unternehmer Bauvertragstexte auf dem Stand der Technik.
Franz Füeg
Maschinen haben Menschen ersetzt, und was passierte sonst?
Plötzlich standen abends die Sizilianer an den Bahnhöfen, die Hochkonjunktur brauchte saisonale Hilfskräfte. Die Schlummermütter bekamen ihre AHV und vermieteten keine freien Zimmer mehr; die Jungen mussten sich in Wohnungen zusammentun. Vor allem der Wohnungsbauboom war gewaltig. Nicht in dem Mass wie heute, aber für damals mit einer ungemeinen Dynamik: Die Veränderungen geschahen rasch und waren drastisch. So ist wohl zu verstehen, dass «rasch» und «rationalisieren» zu herausfordernden Schlagwörtern wurden. Der Gedanke zur Rationalisierung lag auf der Hand.
Und Sie suchten dann als Architekt ein System, das eine Antwort auf «rasch» und «rationalisieren» lieferte.
An ein System dachte wohl niemand. Jean-Pierre Vouga, der Kantonsarchitekt der Waadt, gab den Anstoss, etwas zu unternehmen. 1960 setzten wir uns erstmals zusammen. Wir waren am Anfang einer Sache. – Wie sind wir also zur Rationalisierung der Bauvertragstexte gekommen? Jede Offerte eines Unternehmers gründet auf einem Text. Dieser wurde vom Unternehmer oder vom Ingenieur oder Architekten verfasst. Er besteht aus Sätzen, die die erforderliche Leistung des Unternehmers beschreiben. Für ein Bauwerk können bis zu mehr als tausend Seiten notwendig sein. Statt diese Texte – und dies oft nach subjektivem Verständnis – selber zu verfassen, verkauft sie heute die Zentralstelle für Baurationalisierung als normierte Textelemente. Werden diese Elemente korrekt gebündelt, dann besitzen die Bauherrschaft, die Architekten, die Ingenieure und der ausführende Unternehmer Bauvertragstexte auf dem Stand der Technik.
Würden Sie es noch einmal so machen?
Natürlich ist es sehr wenig, was damit geschaffen wurde. Aber der Arbeitsaufwand der Architekten ist damit erheblich vermindert, die Sprache vereinheitlicht und die Rechtssicherheit wesentlich verbessert. – Ob ich es noch einmal machen würde? Manche Dinge macht man spontan im Leben. So war ich eben: Wenn ich einmal angebissen hatte, bin ich dabeigeblieben.
Und dann plädierten Sie mitten im Bauboom der 1960er Jahre für eine Bauforschung, die auch die Methoden der Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie einschliesst. Sie schrieben damals: «Ein vollständiges System in der Bauforschung liegt dann vor, wenn darin auch die Komponenten des Humanen inbegriffen sind.»
Architektur bedeutet einen Dienst am Menschen, das ist auch für unsere Sicht auf die Moderne wichtig: Die moderne Architektur hat nicht nur neue Techniken eingeführt, sie hat auch eine Auffassung von Raum gefunden, der nicht geschlossen ist, sondern nach aussen und innen, oben und unten fliesst. Raum hat fliessende Übergänge zu anderen Räumen und schliesst dabei den nach innen konzentrierten Raum nicht aus.
Sie haben sich viele Gedanken über die Wahrnehmung und die Grundphänomene des Raums gemacht. Aus heutiger Sicht überrascht diese Verbindung, dass Technik und Ästhetik so selbstverständlich zusammengehören.
Die einen interessieren sich für Fussball, die finden dort Systematik. Ich fand sie in der Auffassung von Raum und in der Gestaltung eines menschenwürdigen Daseins. In der Architektur müssen auch die Lebensweise und die Beziehung zur Umwelt mitgedacht werden.
Sie sagen, der Raum sei nichts Abgeschlossenes, sondern ein Raumfeld und ein Raumfluss. Wie kommen Sie dazu?
Es braucht Augen, die sehen. Diese Augen muss man erziehen, das Sehen muss man trainieren. Mir gefallen die einfachen Proportionen, 1:2:4, wie 60×120×240 Zentimeter. Aber noch mehr gefallen mir die Massverhältnisse nach dem englischen Fuss, die sind noch eine Spur besser. Warum, kann ich nicht genau sagen.
Die Piuskirche in Meggen ist Ihr berühmtester Bau. Der Innenraum ist nur durch den durchschimmernden Marmor der Wände belichtet, es gibt keine Fenster. Warum gab es keinen weiteren solchen?
So etwas kann man nicht einfach wiederholen, und ich konnte auch keine Bauherren mehr finden, die sich nochmals auf solche Ideen einliessen. Mächtige Stimmen unter den Architekten haben das Projekt hart kritisiert. Aber das Bauwerk wurde berühmt. Das tragende Gerüst ist eine Stahlkonstruktion, in die lichtdurchlässige Marmorplatten eingebaut sind, durch die ockerfarbenes Licht in vielen Tönungen in den Raum strömt.
Sie haben sich für die Systematisierung der Bauprozesse engagiert und sich dann aber auch gegen das Festschreiben und Normieren der Architektur gewehrt. Kamen Sie da mit Kollegen in Konflikt?
Wir hatten verschiedene Auffassungen. Die meisten dachten: Wir rationalisieren, weil wir schneller bauen wollen. Ich war anderer Meinung. Wenn es schneller geht, ist das schon recht – aber das Ziel sollte sein, besser zu bauen! Das habe ich damals, 1967, vor der ganzen Versammlung des Bundes der Schweizer Architekten gesagt. Und habe so den ganzen Berufsverband dazu gebracht, die Meinung umzukehren. Als ich gemerkt habe, wie man mit Reden gesetzte Meinungen über den Haufen werfen kann, bei so vielen intelligenten Menschen, bin ich erschrocken. Das mache ich nie mehr.
An diesem Abend war also die Mehrheit für Qualität vor Quantität. Wie lange hat das angehalten?
Gar nicht. – Sehen Sie, mit anderen Worten: Einer allein schafft das nicht. Qualität kann man nicht einfach organisatorisch schaffen. Schnelligkeit kann man organisieren, Langsamkeit auch. Aber nicht Qualität, das ist eine andere Kategorie in unserer Realität.
Wie haben sich die Prozesse der Architektur seither verändert?
Die Fragen sind grundsätzlich gleich geblieben: Bauen ist Bauen.
Heute werden die Bauprozesse aber fast ganz über Computer gesteuert, davon konnten Sie in den 1960er Jahren nicht einmal träumen. Diese Rechner verändern doch die Architektur.
Die Frage ist aber: Berechnung wovon? Qualität ist keine Rechnung, sie kann auch nicht aus einer Rechnung geschöpft werden. Oft frage ich die Kollegen, warum heute so miserable und oft sogar menschenverachtende Architektur gemacht wird. Die Antwort ergibt sich oft aus bestimmten Situationen. Zu diesem Thema hatte ich beispielsweise einen Artikel in der «Neuen Zürcher Zeitung» publiziert.
Sie meinen «Verwaltete Architektur» von 1975?
Ja, und ich habe auch andere etwas heftig formulierte Texte geschrieben, sogar richtig böse. In der «Bauzeitung» etwa gegen einen sehr hochgestellten Präsidenten, weil er die Bauingenieure zu blossen Handlungsgehilfen degradiert hatte. Und dann, auch in der NZZ, gegen Eigenschaften des Managements in öffentlichen Bauverwaltungen.
Wie haben die Leute auf Ihre Einwände reagiert?
Da gab es viele verschiedene Reaktionen, die eine sehr direkt: «Schau, wenn du solche Dinge in der ‹Neuen Zürcher Zeitung› schreibst, kannst du nicht erwarten, dass du noch Aufträge bekommst.» Der Warner hatte leider recht, ich bekam diesen Auftrag nicht. Dafür andere, denn nicht in allen Bauverwaltungen der Schweiz wird die NZZ gelesen. Es gab Widerstände, aber auch Chancen.
BSA Bern, Publications FAS, 07.12.2016
Jürg Graser und Patrick Thurston nähern sich dem Menschen Füeg in seiner vertrauten Umgebung. Sie lassen ihn ohne starres Konzept zu Wort kommen. Sie fragen nach, schaffen einen vertrauensvollen Raum, in dem Erinnerungen auftauchen und folgen seinen Lebenslinien. Die langen, unvorbereiteten Gespräche zeigen einen Menschen, der Architektur als ein weitläufiges kulturelles Ganzes versteht. Franz Füeg legt nicht fest. Er ist wach, neugierig, suchend und voller Widerstandswillen, noch heute im hohen Alter.
Die Auswahl aus dem Material der Gespräche wird ergänzt durch fotografische Spaziergänge durch die Bauten von Franz Füeg. Als Beispiele werden das Musikerhaus an der Blumensteinstrasse in Solothurn, die Universitätsinstitute in Fribourg und die Kirche Meggen besucht.
Der Film ist als DVD erhältlich. Bestellung unter mail@bsa-bern.ch