Wir müssen Wollen wollen …

  

Der deutsche Business-Philosoph und Mathematiker Gunter Dueck stellt aktuelle Entwicklungen verständlich dar und fordert uns – charmant, aber nachdrücklich – zu kritischem Hinterfragen auf.    
Interview: Gaby Jefferies
25.09.2023

Wie verändert sich unser Leben? 
Die Veränderungen, die wir aktuell wahrnehmen können – Klimawandel, selbstfahrende Autos, Digitalisierung, künstliche Intelligenz usw. – werden weitergehen, auch wenn sich immer mehr Menschen dagegen wehren. Verlieren wir Arbeitsplätze? Müssen wir einen Teil unseres Wohlstands opfern? Bedroht uns KI? In Norddeutschland sind Immobilien noch billig, aber eine Dachsanierung inkl. Solaranlage kostet fast mehr als die Immobilie selbst. Nach meinem Empfinden hat das alles eine grosse Mutlosigkeit ausgelöst, die durch unsere Regierung nicht gemildert wird. Die positiven Aspekte dieses Wandels werden nicht wahrgenommen: Zum Beispiel erlauben Robotaxis älteren Menschen ein viel besseres Leben, sie fahren Touristen zum Strandkorb, die Garage kann anders genutzt werden.

Aber nein! Stattdessen: Hilfe, was passiert mit der Autoindustrie und den Parkhausanbietern? So maulen wir entschlusslos vor uns hin, warten, was aus Fernost kommt, und wollen das auch nicht. 

 

Welche Auswirkungen haben diese Entwicklungen auf unsere Arbeit? 
Es gibt einen Umbruch: Jobs verschwinden und gleichzeitig entstehen neue. Erinnern wir uns: Früher waren 40 % in der Landwirtschaft beschäftigt, heute nicht einmal 2 %. Gleichzeitig entstanden neue Wirtschaftszweige: Der Autobau, der Autobahnbau und in der Folge der Tourismus schufen so viel Arbeit, dass man «Gastarbeiter» aus dem Ausland anwarb. Es war kaum Jammer zu hören. In der Zeit des «Wirtschaftswunders» war der Wandel stärker als heute, aber auch die Bereitschaft, den Beruf zu wechseln. Man fürchtete damals keinen Abstieg durch einen Berufswechsel, heute schon. Dafür gibt es leider auch Gründe, weil die Arbeitsgeber nicht mehr so sehr an uns Menschen denken, wenn sie den Wandel angehen.

 

Ihre Empfehlung, damit wir den Änderungen positiver gegenüberstehen? 
Wir sollten eine positive Gesamtvision haben, eine zuversichtliche Aussicht, der wir entgegenarbeiten und an der wir unsere Erfolge messen. Es ist doch schrecklich, wie die Autobauer missmutig auf China starren oder das staatliche Fernsehen auf Netflix. In unseren Gesichtern steht: «Spielverderber!». Wir brauchen ein eigenes konkretes Bild von unserer Zukunft. Die 2030-Ziele beim Klima oder bei der Verwaltungsdigitalisierung sind keine positiven Aussichten, sondern das Verschieben nötiger Hausaufgaben.  

 

Welche Fähigkeiten sind notwendig, um für die Herausforderungen der Zukunft gut aufgestellt zu sein? 
Schauen Sie in die Zukunft: KI, IT, Energie-Tech, Health-Tech. Generell kann KI bald alles, was ein mässig geschickter Mitarbeiter schafft. Also: Upgrade erzwingen! Aber wir schauen weg, auch grosse Konzerne tun dies. Auf Twitter wird alle paar Monate wieder über den damaligen VW-Chef Matthias Müller gelacht, der sich 2017 zur Zukunft der Automobilindustrie äusserte: «Es gibt Unternehmen, die verkaufen mit Mühe 80’000 Autos pro Jahr. Volkswagen 11 Millionen in dem Jahr. [...] Volkswagen erwirtschaftet im Jahr einen Gewinn von 13 bis 14 Milliarden Euro. [...] Tesla vernichtet pro Quartal einen dreistelligen Millionenbetrag» (Gewinn Tesla 2022: 12,6 Mrd. Dollar). Diese Art der Fehleinschätzung ist schlimm.

 

Bringt uns die Digitalisierung die gewünschten Innovationen? 
Digitalisierung bekommt erst wirkliche Kraft, wenn sie möglichst viele Bereiche übergreifend integriert – so wie ChatGPT so gut ist, weil auf das gesamte Internet zugegriffen wird. An einzelnen Stellen herumschustern hilft nicht so viel. Zu einem grossen Wurf fehlt meist der Wille. Früher hiess es: «Die Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung ist erzwungen, weil so viele Babyboomer gehen. Wir müssen es tun, sonst schaffen wir die Arbeit nicht!» Heute dagegen: «Wir schaffen die Arbeit nicht, wir brauchen mehr Beamte!» Ich will damit sagen: Es fehlt der Wille, obwohl sich alle 15-Jährigen und viele andere für unseren Digitalstatus geradezu fremdschämen. Wir brauchen übergreifende Plattformen, keine Insellösungen wie den digitalen Ausweis, mit dem man nichts anfangen kann. Für eine grosse Lösung müssen wir aber eine Vorstellung davon haben, wie wir in zehn bis fünfzehn Jahren leben wollen.  

 

Wie müssen wir uns denn weiterentwickeln, um für die Herausforderungen der Zukunft gut aufgestellt zu sein?  
Wir müssen eine vernünftig vernetzte Zukunftsvision entwickeln und den Willen erzeugen, diese Vernetzung gemeinsam erreichen zu wollen. Der Bau kann digital profitieren, wenn er sich voll digitalisiert, sodass nach dem Bau (kürzere Zeit) auch der Bauherr «für immer» alle notwendigen Informationen (Pläne, Zertifikate, Informationen zu verbauten Materialien usw.) erhält, die er benötigt, um das Gebäude über die gesamte Lebenszeit zu managen. Im Bildungsbereich fehlen sogar die Grundeinsichten: Aktuelle Studien zeigen, dass knapp 30 % der Kinder am Ende der vierten Klasse nicht richtig lesen, schreiben oder rechnen können. Ich behaupte einmal: Das Aussieben findet nicht in der Uni statt, sondern in den Grundschuljahren oder im Kindergarten. Das können wir uns nicht leisten. Hier sollten neue Wege eingeschlagen werden: Jeder pensionierte Babyboomer bekommt ein Nachhilfe-Patenkind!  

 

Fachkräftemangel ist bereits in vielen Branchen ein Thema. Haben Sie eine Empfehlung? 
Sehr gute Arbeitsbedingungen und gute Entlöhnung. Spannende Aufgaben, Möglichkeiten zur Weiterbildung oder zu Coachings anbieten, Mentoren einsetzen, die ihr Wissen an jüngere Mitarbeitende weitergeben, … 

 

Sie haben sich bei IBM u.a. um den Kulturwandel gekümmert. Wie muss die Unternehmenskultur aussehen, damit ein Unternehmen den digitalen Wandel erfolgreich meistert? 
Unternehmen sollten fragen, welche Kultur in der vor uns liegenden Zeit «die beste» ist. Früher führten Juristen und Ingenieure die Unternehmen: korrekt, erfinderisch, ruhig, kraftspeichernd. Sie wurden durch BWL-Manager ersetzt: optimierend-einsparend, effizient, alles Angesammelte als nicht betriebsnotwendig wegverkaufend. Nun fehlen die Energie und die Offenheit für einen neuen Kraftakt. Zeit für einen «Pferdewechsel»? Wir brauchen wieder Unternehmer da oben. So ein Kulturwandel ist elend schmerzhaft für die Weichenden. Das Schlimme ist, dass die Aktionärsmacht eben auch noch BWL-verhaftet ist.  

 

In einem Ihrer Bücher geht es um «Schwarmdummheit». Was ist damit gemeint?  
Ich zeige hier Dinge auf, die intelligente Menschen in Gruppen falsch machen: Statistiken werden falsch gelesen; Regeln, die in der Vergangenheit gut waren, werden zwanghaft angewendet; Präsentationen werden lähmend ineffizient per «Zusammensitzen» einer Gruppe erarbeitet. Kann nicht ein Einzelner schon vor dem Meeting mit einem Entwurf kommen? Anschliessend wird nur präsentiert, aber nicht mehr beredet («bitte alle auf Mute»). Die Personaler stellen kaum Leute für die neue Kultur ein, sondern für die jetzige – oft kennen sie nur diese. Man weiss nicht, was gute Mitarbeitende sind, Unternehmen antworten viel zu spät auf Bewerbungen; die guten Bewerber sind dann schon weg und die schlechten wissen in der Zwischenzeit, wie viel sie verlangen können usw. In den BWL-geführten Unternehmen herrscht Auslastungswahn. Die Mathematik sagt: nie mehr als 85 % der Zeit verplanen – aber sie wollen 100 %. Bei 100 % kann kein Problem aufgefangen werden, es gibt dann Zusatzarbeit, einen Entschuldigungsmanager, Projektverschiebungen, Kundenärger usw. Ich will sagen: Probleme bei Überlastung erzeugen Arbeit, die nur durch die Überlastung entsteht! Also steigt die Auslastung auf 105 %, dann genau deshalb weiter auf 110 %, 60-Stunden-Woche, Burn-out. Mithilfe eines mathematischen Naturgesetzes erkläre ich die Folgen von Überlastung und zeige die Lösung auf: nur 85 % der Zeit verplanen. Weiter erkläre ich den gefährlichen Fehlschluss, dass ein Teil der Beobachtungen als Grundursache genommen wird. «Studien ergeben, dass Firmen erfolgreicher sind, wenn sie Blumen am Empfang stehen haben.» Manager: «Ich will Blumen!» Er verwechselt Grundursache mit Begleiterscheinung oder Korrelation mit Kausalität.  

 

Was kann ein Unternehmen tun, um dieses Wissen zu nutzen?  
Ich habe Fehler aufgezeigt! Lassen Sie die. Leider verkaufen viele Berater eine Begleiterscheinung als Grundursache. «Firmen mit protzigen Dienstwagen sind profitabler! Schaffen Sie teurere Dienstwagen an!» Dieses Suchen nach leicht behebbaren «Fehlern» führt eher ins Verderben. Ich mag die Idee eines 15-jährigen Menschen, der einmal herumgeht und alles authentisch mitleidig kommentiert.  

 

Wie wirkt sich der schnelle Wandel auf die Baubranche aus? 
Es wird mehr Standardisierung geben, Grossprojekte müssen termingerecht und im vorgegebenen Budget abgewickelt werden. Das gilt insbesondere für Deutschland – hier müssen sich auch die politischen Prozesse ändern. Zusatzarbeiten müssen vermieden werden.  

 

Was kann helfen, damit die digitale Transformation zu echtem Mehrwert führt? 
Das geht nur durch Integration der einzelnen Teile in das Ganze. Dies sollten zentrale Organisationen, die das auch durchsetzen können, in die Hand nehmen. Zuerst muss der ganze Workflow vernünftig strukturiert sein. Für alle Einzelteile Apps oder Programme zu entwickeln, bringt hier nichts.

 

Wie kann sichergestellt werden, dass das Tempo der Entwicklungen den Bedürfnissen und Möglichkeiten des Markts optimal entspricht? 
Wachstum braucht Kapital, hier sind sowohl Deutschland als auch die Schweiz im Unterschied zu Amerika viel zu vorsichtig, auch wenn feststeht, dass Kunden den Preis für ein Produkt bezahlen und das Geschäft profitabel ist. Das erste Wachstum muss viel schneller gehen als das bei uns der Fall ist. Weiter müssen Regeln und Traditionen hinterfragt werden: Warum gibt es sie, wie sind sie entstanden? Die Einstellung «Das macht man so!» muss überwunden werden – nicht einfach mitschwimmen, sondern hinterfragen.